...ein Asteroid die Erde träfe?
Johanna Romberg über ihr stilles Glück im Preiselbeergarten
Eisbärgulsch kann schrecklich zäh sein. Aber wenigstens wird man satt davon. Anfang Juni hatte sich das Tier auf seinem Streifzug übers norddeutsche Inlandeis in unseren Vorgarten verirrt - genau gesagt, auf jene von Latschenkiefern ümfriedete Freifläche, auf der wir in milden Sommern ein paar Preisel- und Moltebeeren ernten. Beeren, Rentierflechten, marinierte Regenwürmer - das sind unsere Grundnahrungsmittel, abgesehen von den Care-Paketen, die Hilfsorganisationen aus den klimabegünstigten Ausländern gelegentlich aus Flugzeugen abwerfen.
Es ist das Jahr 25 nach Ishmael. Manche Leute nennen es immer noch 2083. Es sind dieselben Leute, die nachts manchmal von Orangen, Sonnenbrand und Gartengrills träumen, von jenem märchenhaften, versunkenen Zeitalter vor der Stunde Null.
Am Abend jenes 15. April wuchs der Lichtpunkt, den wir seit einigen Monaten über dem südlichen Horizont beobachteten, binnen Stunden auf Mondgröße an. Gegen 22.13 Uhr unserer Zeit zog er einen gleißenden Lichtkanal über den Nachthimmel. Dann wurde es dunkel, und kurze Zeit später spürten wir die Erde zittern - fernes Echo eines Einschlags, der Teile Nord- und Zentralasiens in eine Aschewüste verwandelt hatte. Es handelte sich, Glück im Unglück, um weitgehend unbesiedelte Gebiete. Wir hätten also aufatmen können in den nächsten Tagen. Aber es gab keine Tage mehr. Nur während der Mittagstunden drang trüber Funzelschein durch die Gigatonnen von Staub, die der Aufprall in die Atmosphäre geschleudert hatte.
Im Mai begonnen die ersten Bäume, ihre Blätter abzuwerfen - Vorboten eines globalen Winters, dem bis heute kein wirklicher Frühling mehr gefolgt ist. Im Jahr drei nach Ishmael wurden die ersten Eisschollen im Golf von Mexiko gesichtet, und anno 10 n.I. wurde der Getreideanbau nördlich des 40. Breitengrades endgültig eingestellt. Man schätzt, dass seitdem in den ehemals gemäßigten Zonen des Globus rund die Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten ausgestorben sind. Genau weiß es niemand, denn von den paar Millionen Überlebenden, die nicht längst richtung Äquator geflohen sind, hat keiner die Zeit, sich mit Erhebungen zur Artenvielfalt zu befassen.
Ishmael hat die abendländische Zivilisation weitgehend ausgelöscht - und das, obwohl diese sein Kommen seit Jahrzehnten vorausgesehen hatte. 22 v.I. wurde ein Mondgestütztes Laserabwehrsystem mit durchschlagenden Erfolg getestet: Es pulverisierte nicht nur die Trümmer der Raumstation ISS, sondern radierte auch das darunter liegende Mururroa-Atoll von der Weltkarte.
Und dann, vier Monate vor dem Einschlag, der Schock: Die USA erklären ihren Ausstieg aus dem Weltverteidigungsprogramm. Kurz zuvor hat bei den Präsidentschaftswahlen überraschend der Kandidat der ultrakonservativen Cristian Doomsday Union (CDU) gewonnen. Ihre Botschaft: Der geplante Eingriff in den Lauf der Gestirne ist ein Frevel wider die göttliche Ordnung - fast so schlimm wie Abtreibung. Der Slogan "Let it happen!" überzeugt eine knappe Mehrheit der Wähler - vor allem solche, die, angesichts des drohenden Crashs, ihre Altersrücklagen bis auf den letzten Cent verprasst haben.
Erst zwei Wocen vor dem Einschlag stellt sich heraus, dass der Hauptfinanzierer der CDU Chef einer Firma für Survival-Zubehör ist, die, unter anderem, Bausätze für Treibhäuser aus Isolierglas herstellt. Diese finden zu Beginn der neuen Eiszeit reißenden Absatz. Der Firmenboss kann den Erfolg jedoch nicht mehr genießen: Zusammen mit dem CDU-Elite hat er sich, in Erwartung eines verheerenden Tsunami, in den Himalaya geflüchtet. Pech für ihn: Das Dach der Welt liegt genau in der Einflugschneise des Asteroiden, der kurz vor seinem Aufprall mehrere Achttausender zu Tafelbergen rasiert.
Immer wenn ich die Tür zu unserem Treibhaus öffne, um nach unseren dämmrungsresistenten Genmais-Kulturen zu sehen, denke ich mir: Gut, dass es wenigstens noch Gerechtigkeit auf der Welt gibt.
Noch lieber aber wäre mir, es gäbe bald auch wieder Orangen.
so, fertig

x-periment